Featured image of post Über Reichtum, Privilegien und das, was ich als gesellschaftlich gerecht empfinde

Über Reichtum, Privilegien und das, was ich als gesellschaftlich gerecht empfinde

Ich stolpere seit Wochen immer wieder über diese Neiddebatte, die aus meiner Sicht keine ist.

Friedrich Merz fliegt Anfang Juli 2022 mit dem Privatflugzeug zu Christian Lindners Hochzeit nach Sylt und argumentiert später im ZDF tatsächlich, das Flugzeug verbrauche ja weniger Benzin als ein Auto.1 Sofort springen ihm Leute zur Seite, die zustimmen und voller Bewunderung für ihn sind. Ein erfolgreicher Mann, der es zu etwas™ gebracht hat. Manche entblöden sich nicht mal zu behaupten, so etwas könne man sich nach dem Durchlaufen einer Karriere in einem bürgerlichen Job leisten.2 Und klar: Eine gebrauchte Cessna kostet ja tatsächlich weniger als ein Tesla Model S.3

Nun fliegt der Mann aber nunmal keine popelige Cessna, sondern eine Diamond DA62, die - je nach Quelle - irgendwo zwischen 1 und 1,5 Millionen Euro kostet.4 1,5 Millionen Euro sind eine Menge Geld [citation needed]. Damit könnte ich die Restschuld vom Haus tilgen und hätte bis zum Rest meines Lebens noch immer 2000 Euro pro Monat extra zur Verfügung. Und ich melde mich hier aus einer überaus priviligierten Position, denn offensichtlich habe ich ein Haus, dessen Darlehen und Unterhalt wir mit unserem Haushaltseinkommen bedienen können.

Mit 1,5 Millionen Euro kann man auch 5,9 Millionen kWh Gas zum aktuellen Preis von 0,2529 Euro pro kWh kaufen. Das hält einen Singlehaushalt mit 5.000 kWh für 1.180 Jahre über Wasser.5 Oder 1.180 Singlehaushalte für ein Jahr. Da muss man halt gucken, was man persönlich als wichtiger erachtet.

Macht für Euch mal die Rechnung auf, insbesondere der Teil meiner Bubble, der wie ich 40+ ist und in der IT-Branche arbeitet. Die wenigsten dürften zur Mittelschicht gehören.6 Vermutlich gehört ihr eher zu den wohlhabendsten 15 %, aber seid ihr da hingekommen, weil ihr schlauer oder besser seid, als die restlichen 85 %?

Man kann sich dafür auf die Schulter klopfen, dass die eigenen Entscheidungen, das Durchhaltevermögen oder die klugen Investments einen dahin gebracht haben, wo man heute ist. Aber man sollte nicht vergessen, dass auch Glück dazugehört. Oder Pech.

Manchmal scheitert man, egal wie gut man ist. Man trifft gute Entscheidungen, die sich als falsch herausstellen. Vielleicht hast du kein Netz von Freunden oder Familie, das dich auffängt. Vielleicht wird dein gesellschaftlich relevanter Job schlecht bezahlt und du wirst auf Verschleiß gefahren. Vielleicht wirst du krank. Oder vielleicht passiert etwas in deinem Leben, das dich unwiederbringlich aus der Bahn wirft.

Obwohl wir es besser wissen könnten, sehen wir Erfolg ausschließlich als Ergebnis von harter Arbeit. Friedrich Merz fliegt dieses Flugzeug, weil er hart gearbeitet hat und kluge Entscheidungen trifft. Und Misserfolg oder gar Armut? Das kann ja dann wohl nur am schwachen Charakter liegen.7

Und weil Misserfolg Schwäche ist, muss man diese Charakterschwachen einfach noch etwas weiter pushen und anspornen, damit sie sich endlich für Erfolg entscheiden.

Gleichzeitig hören wir aus der libertären Ecke, dass Mindestlohn zum Niedergang der Wirtschaft führe oder dass Steuern Raub seien. Der Ball wird dann so gespielt, als ob weniger Steuern oder keine Steuern insbesondere unteren Einkommensschichten zugute käme. Auch wenn ich mich damit etwas weit aus dem Fenster lehne: Die 30.000 Euro Grunderwerbssteuer sind eher nicht der Showstopper für den 500.000 Euro Hauskauf und ihr Wegfall bringt die Altenpflegerin und den Maurer nicht leichter ins Eigenheim, sondern die Anwaltstochter günstiger.

Worauf will ich eigentlich hinaus? Unterm Strich bin ich der Überzeugung, dass es einer Gesellschaft als Ganzes besser geht, wenn es möglichst vielen Menschen gut geht. Menschen geht es gut, wenn sie sich keine Sorgen machen müssen, ob das Geld bis zum Monatsende reicht, wenn sie sich verwirklichen können, wenn sie freie Entscheidungen treffen können und wenn sie an der Gesellschaft teilhaben können.

So etwas bezahlt sich nicht von selbst, aber dafür gibt es Steuern. Und vielleicht könnte man ja den schädlicheren Teil der Subventionen streichen. Was ein Zurückfahren ungerechtfertigter Privilegien ist, wird uns dann leider gerne mal als Verlust von Freiheiten verkauft.

Aber welche Freiheiten sind das denn? Um den Verlust von Flugzeug, Boot oder Ferienhaus mache ich mir weniger Sorgen. Tempolimits machen mir keine Angst (ab 130 km/h höre ich in meinem 15 Jahre alten Golf die Musik nicht mehr). Dienstwagenprivileg? Wenn du einen Dienstwagen hast, geht es dir vermutlich nicht so schlecht. Die Urlaubsreise ans andere Ende der Welt wird teurer, weil Kerosin plötzlich besteuert wird? 80 % der Weltbevölkerung haben noch nie ein Flugzeug bestiegen8, get over it.

Ok, aber ist das jetzt Neid?

Ich denke nicht. Ich will kein Flugzeug, ich will kein politisches Amt und ich will erst recht nicht in einer so realitätsfremden Position sein, in der ich mich für die gehobene Mittelschicht9 halte, obwohl ich am oberen Ende der Wohlstandsskala kratze. Neidisch bin ich auf die Menschen, die sagen, dass sie genug zum Leben haben. Die nach dem Kassensturz gesagt haben, dass vier Tage Arbeit pro Woche auch reichen, oder die sich umorientieren, um etwas Sinnvolleres mit ihrem Lebem zu machen. Und auch das sind Entscheidungen, die man nur in einer äußerst priviligierten Position treffen kann.

Privilegien aufzugeben ist nicht leicht. Aber vielleicht wird es dadurch einfacher: Selbst als Single mit 4.000 Euro netto wirst du eher zu dem Obdachlosen vorm Bahnhof, bevor du Friedrich Merz wirst.

Nachtrag: Friedrich Merz scheint auch noch eine Socata TBM 930 zu besitzen, die eher so bei 2,5 Millionen Euro liegt.

Built with Hugo
Theme Stack designed by Jimmy